Widerstand – Freiheit – Demokratie
Meinungs(un-)freiheit im NS-Regime
Wir erinnern uns – 80 Jahre zurück: Es ist September 1944.
Der Versuch der Gruppe um Claus Schenk Graf v. Stauffenberg, Adolf Hitler am 20. Juli 1944 durch eine Kofferbombe zu töten, ist gescheitert. Hitler hat die Explosion mit leichten Verletzungen überlebt. Die NS-Propaganda spricht schnell von „Vorsehung“, um die Legitimation der NS-Führung – trotz des drohenden Scheiterns des Krieges – zu festigen.
In dieser Situation setzt das NS-Regime auf „Härte“, auch gegen die eigene Bevölkerung:
Die Gruppe um Graf v. Stauffenberg wird von der NS-Propaganda zu „feigen Landesverrätern“ herabgewürdigt, 600-700 Personen, die – ob zu Recht oder zu Unrecht – mit dem Attentatsversuch in Verbindung gebracht werden, werden verhaftet. Fast 1/6 dieser Inhaftierten wird hingerichtet. Gleichzeitig wird der versuchte Staatsstreich zum Anlass genommen, noch härter gegen Gegner des Regimes vorzugehen. Während der lange geplanten Aktion Gewitter im August 1944 werden ca. 5.000 Verhaftungen von Oppositionellen durchgeführt, die zwar keinen Bezug zu dem Attentat aufweisen, dem NS-Regime aber schon lange ein Dorn im Auge sind.
Ein Septemberabend 1944 bei Dr. W. in Goslar – Das „Verbrechen“
Diese Härte des NS-Regime bekommt auch ein Goslarer Arzt, Dr. W., sowie ein mit ihm befreundetes Ehepaar aus Goslar, das Ehepaar H., zu spüren. Dr. W. ist überzeugter Demokrat, der insbesondere die Gewalt im Dritten Reich kritisiert. Er gilt in Goslar schon lange als Gegner des NS-Regimes. Zu Besuch bei Dr. W. und seiner Ehefrau Anfang September 1944 kommen die Vier schließlich auch auf den versuchten Staatsstreich durch von Stauffenberg zu sprechen:
Herr H.: „Der 20. Juli hätte anders auslaufen müssen, dann wäre der Krieg heute zu Ende.“
Herr Dr. W.: „Das sind eben politische Wahnideen von Hitler“. (…)
[Zitate aus der Anklageschrift des Generalstaatsanwalts bei dem Kammergericht Berlin vom 10. März 1945]
Ende Dezember 1944 werden Dr. W. und das Ehepaar H. verhaftet. Sie bleiben mehrere Monate in Untersuchungshaft, Herr Dr. W. fast dreieinhalb Monate bis zum 12. April 1945. Unter dem 10. März 1945 wird die Anklage vom Generalstaatsanwalt bei dem Kammergericht Berlin verfasst, der zugrunde gelegte Straftatbestand: Wehrkraftzersetzende Äußerungen nach § 5 der Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO) – ein Verbrechen.
Danach gilt seinerzeit:
§ 5 Zersetzung der Wehrkraft
(1) Wegen Zersetzung der Wehrkraft wird mit dem Tode bestraft:
1. wer öffentlich dazu auffordert oder anreizt, die Erfüllung der Dienstpflicht in der deutschen oder einer verbündeten Wehrmacht zu verweigern, oder sonst öffentlich den Willen des deutschen oder verbündeten Volkes zur wehrhaften Selbstbehauptung zu lähmen oder zu zersetzen sucht;
[…]
(2) In minder schweren Fällen kann auf Zuchthaus oder Gefängnis anerkannt werden.
(3) Neben der Todes- und Zuchthausstrafe ist die Einziehung des Vermögens zulässig.
Der Einwand, eine Äußerung zwischen zwei befreundeten Ehepaaren am privaten Küchentisch könne doch nicht „öffentlich“ sein, wird von der NS-Justiz schon lange mit einem Federstrich beiseite gewischt: Bereits die (kaum widerlegbare) Möglichkeit, dass die „wehrkraftzersetzende Äußerung“ publik werden könnte, genügt, um eine Aussage als „öffentlich“ zu qualifizieren.
Im Ergebnis reicht es zur damaligen Zeit, Hitler im privaten Kreis zu kritisieren, um wegen Wehrkraftzersetzung mit dem Tode bestraft zu werden. Die Voraussetzung, die Äußerung müsse „öffentlich“ geschehen, verliert ihre Bedeutung – im Unrechtsstaat des Nationalsozialismus ist jede Äußerung öffentlich.
Die Folgen der Untersuchungshaft
Das Ehepaar H. wie auch Dr. W. werden angeklagt und in der Untersuchungshaftanstalt in Braunschweig und im Gerichtsgefängnis in Goslar inhaftiert. Zu einer Verurteilung kommt es nicht mehr – die Befreiung durch die Amerikaner bringt auch dem Ehepaar H. und dem Arzt Dr. W. schließlich die Freiheit. Auch ohne Urteil bleiben die Angeschuldigten durch die Untersuchungshaft aber schwer gezeichnet. Mit acht Personen wurde Dr. W. in eine Ein-Mann-Zelle gesperrt, als Bettlager diente ein verfaulter Strohsack, die Verpflegung war so schlecht, dass Dr. W. nach eigener Einschätzung ein Hungerödem erlitt, das ihn noch bis zu seinem Tod begleitete. Dr. W. sah sich einer „ständigen Todesdrohung“ ausgesetzt, er hatte panische Angst, nachdem er miterleben musste, "wie ein Mitgefangener ohne Urteil von der SS“ hingerichtet wurde.
Die zweite Ehefrau des Dr. W. kämpft lange – aber letztlich erfolglos – darum, dass sein Tod und die gesundheitlichen Beschwerden, die Dr. W nach der Untersuchungshaft hatte, als Folgen der NS-Verfolgung anerkannt werden und sie eine entsprechende Entschädigung der zuständigen Entschädigungsbehörde – dem Niedersächsischen Verwaltungsbezirk Braunschweig – erhält.
Herr H. verstirbt bereits am 26. Februar 1948 an einer während der Haft zugezogenen Herzmuskelschwäche und Wasseransammlungen in Beinen und Bauch. Seine Ehefrau, Frau H., erhält eine Geschädigtenrente, eine Hinterbliebenenrente sowie im Jahre 1950 eine einmalige Haftentschädigung von 1.500,- DM.
Noch heute liegen die Entschädigungsakten zu den Personen aus unserer Region im Landesarchiv Wolfenbüttel; die den Verfahren zugrundeliegenden Strafakten konnten bisher in keinem Archiv mehr aufgefunden werden.
Hintergrund: Die Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1944 und die Offensive der Roten Armee „Operation Bagration“ am 22. Juni 1944 hat eine neue Phase des Krieges eingeleitet – die deutsche Wehrmacht verliert immer mehr der eroberten Gebiete und erleidet dabei schwere Verluste. Auch für die Bevölkerung wird immer deutlicher, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen ist und nur zu mehr Leid führen kann. Die Todesstrafe als Sanktion auf einen Verstoß gegen § 5 KSSVO war jedenfalls nicht unwahrscheinlich. Zwar lässt sich die Zahl der ergangenen Urteile nur noch schätzungsweise nachvollziehen, gleichzeitig wird eine Tendenz zum „Abgleiten in die Todesstrafe“ beschrieben, je näher die Kriegsniederlage rückte. Im Jahre 1944 endete jedes zweite Verfahren wegen Wehrkraftzersetzung vor dem Volksgerichtshof mit dem Todesurteil. Neben der Frage der „Öffentlichkeit“ der in diesem Artikel dargestellten Äußerung kann auch infrage gestellt werden, ob überhaupt eine „Wehrkraftzersetzung“ in dem Sinne vorlag, dass die „wehrhafte Selbstbehauptung“ durch die Aussagen von Herrn H. und Herrn Dr. W. reduziert würde. Allerdings fand auch hier mit Übernahme der Verfahren wegen Wehrkraftzersetzung durch den Volksgerichtshof (für die Zivilbevölkerung) ab 1940 eine deutliche Weitung des Tatbestands statt. Es genügte bereits eine „pessimistische Beurteilung der sich ja tatsächlich immer mehr verschlechternden Kriegslage, […], das Bedauern über das Scheitern des Attentats vom 20. Juli 1944“. Auch im Land Braunschweig wurden im Rahmen der Aktion Gewitter (Gitter) politische Gegner/innen verhaftet und in den Gefängnissen Braunschweig und Wolfenbüttel inhaftiert bzw. später oder auch direkt in das Lager 21 bei Salzgitter-Watenstedt gebracht. Von dort wurden die Verhafteten, wie im Fall der SPD-Politikerin und späteren Braunschweiger Bürgermeisterin Martha Fuchs in das Konzentrationslager Ravensbrück, in Konzentrationslager verlegt. Bekannt ist insbesondere das Schicksal von Heinrich Jasper, dem sozialdemokratischen Politiker, der am 22. August 1944 im Rahmen der Aktion Gewitter (Gitter) verhaftet wurde und über das Lager 21 sowie das Konzentrationslager Sachsenhaus verbracht, am 19. Februar 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen starb. |
Informationsstele vor dem ehemaligen Untersuchungsgefängnis in der Rennelbergstraße